Über das Projekt
Auch in Österreich (wie International) werden eine strukturierte Diagnosecodierung und auch eine vereinheitlichte Patientenkartei (Patient Summary) immer konkreter diskutiert. Eine Erweiterung unserer hausärztlichen Dokumentation zur Erleichterung einer strukturierten Kommunikation innerhalb des Gesundheitssystems ist als sinnvoll zu erachten – die Implementierung muss jedoch entlang der Bedürfnisse der hausärztlichen Primärversorgung gestalten und gut in unseren Alltag integrierbar sein.
Ein Projekt der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Krems in Kooperation mit der OEAGM (Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin) und der Medizinischen Universität Graz.
Es soll die technische und wissenschaftliche Grundlage für automatisches Codieren im österreichischen Gesundheitssystem geschaffen werden. Die benutzerfreundliche Anwendung soll den Gesundheitsberufen interoperables Arbeiten ermöglichen, die Patient_innen Sicherheit erhöhen und durch die Verwendung von SNOMED-CT zukünftigen europäischen e-Health Anforderungen genügen.
Flächendeckende, ambulante und stationäre Codierung in Österreich
mit der SNOMED-CT-basierten österreichischen Referenzterminologie
Helmut Dultinger1, Christoph Powondra1,2, Stefan Schulz3
1 Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM)
2 Department für Allgemein und Familienmedizin, Karl Landsteiner Privatuniversität Krems
3 Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Dokumentation, Medizinische Universität Graz
Kontext
Medizinisches Personal klagt über ausufernde Dokumentation und zunehmende Codierungspflichten. Dem setzen wir das Prinzip der automatischen Codierung entgegen. Damit werden die Arbeitsschritte Dokumentation und Codierung im klinischen Alltag weitgehend zusammengeführt. Das spart Zeit, erhöht die Codierungsqualität und erzeugt interoperable klinische Daten. Die bei der Dokumentation verwendeten fachsprachlichen Ausdrücke (Termini) werden automatisch im Hintergrund mit einem Code versehen, der nur mehr aktiv bestätigt werden muss.
Ziele
- Entwicklung und Pflege einer SNOMED-CT basierten österreichischen Referenzterminologie (SNOMED-CT based Austrian Reference Terminology -SNO_ART) und eines Webservices (Anfrage, Suche, Ergebnislieferung) zur alltäglichen Codierung von Diagnosen und Leistungen im ambulanten und stationären Bereich.
- Angestrebt wird eine Codierung nicht allein für betriebswirtschaftliche und statistische Zwecke, sondern für interoperables Arbeiten in den Gesundheitsberufen, orientiert an internationalen Standards.
- Die Abbildung von Behandlungsprozessen auf medizinische Codiersysteme unterstützt Qualitätssicherung sowie populationsbezogene, bedarfsgerechte Versorgungsplanung.
Kunden / Endnutzer
- Niedergelassene Gesundheitsdiensteanbieter (GDA) und Krankenhäuser in Österreich, deren Personal in ihren Dokumentationsaufgaben entlastet werden muss.
Vorhandene Tools und Ressourcen
- Die ÖGAM entwickelt in Kooperation mit der Karl Landsteiner Universität Krems eine SNOMED-CT-basierte österreichische Referenzterminologie (SNO_ART) und ein Webtool, mit dessen Hilfe die häufigsten in der Primärversorgung verwendeten medizinischen Terme aus den Klassifikationen ICPC2, ICPC3, ICD10, sowie aus SNOMED CT den korrekten Codes zugeordnet werden können.
- Die Medizinische Universität Graz unterhält seit 2015 eine Sammlung deutschsprachiger Klinikterme mit Links zu SNOMED-CT-Codes, die als German Interface Terminology for SNOMED CT (SCT-GIT) bezeichnet wird. Diese ist einerseits für die maschinelle Analyse deutschsprachiger Medizintexte, sowie als Indexierungsvokabular für die Recherche innerhalb von SNOMED CT mit deutschen Suchanfragen vorgesehen und strebt an, die gesamte Breite des deutschsprachigen Klinikjargons abzudecken.
Methodik und Ressourcen
- Von bisher zweckbezogener (statistischer und administrativer) Codierung soll der Schritt zur generellen Herstellung maschinenlesbarer und interoperabler Behandlungsdaten durch Einsatz sprachverarbeitender Technologien vollzogen werden.
- Der internationale Terminologiestandard SNOMED CT dient als Zielvokabular, welches Inhalte aus allen Bereichen der Medizin repräsentiert (wie im EU-Projekt ASSESS CT (2016) aufgezeigt). Der Vorteil liegt darin, dass es sich um einen internationalen Standard handelt, der unabhängig von nationalen Präferenzen, aber dennoch perspektivisch auf Klassifikationssysteme auch jenseits von ICD-10 abbildbar ist (z.B. Klassifikationscodes als Abfragen auf SNOMED-CT-codierte Patientendaten).
- Hierbei ist die SNO_ART zu unterscheiden von der SNOMED-CT-Übersetzung durch die German Translation Group (als amtlicher Standard für die deutschsprachigen Länder) und andererseits von der SCT-GIT (als Indexierungsvokabular für Text Mining und Suchmaschinen). Beide Ressourcen sind jedoch eng an die SCT-ÖRT angebunden und werden in die zu entwickelnden Softwarewerkzeuge integriert.
Ausbaustufen
- Ausbau der in Anfängen existierenden SNOMED-CT-basierenden österreichischen Referenzterminologie (SNO_ART), die Mappingtabelle zwischen dem BfArM-Diagnosenthesaurus (ICD-10-Alphabet) und SNOMED CT unter Verwendung der von Stefan Schulz an der MedUni Graz erstellten und gepflegten Interface-Terminologie SCT-GIT. Damit soll bei der Einbindung des Diagnosenthesaurus in klinische Informationssysteme neben der Codierung mit ICD-10 auch eine präzise Annotation mit SNOMED CT-Codes gewährleistet werden, um so eine nachhaltige und interoperable Dokumentation zu erreichen, die über die limitierte Granularität der ICD-10 hinausgeht. Hierbei ist zu beachten, dass korrekte Mapping-Entscheidungen teils aufwändiger Recherche, z.B. in med. Fachliteratur und medizinischen Korpora bedürfen. Auch müssen gleiche oder unterschiedliche Mapping-Entscheidungen im Vergleich zwischen den zu demselben ICD-Code gehörenden BfArM-Termen plausibel sein.
- Die Erweiterung auf IPS (Reference Set International Patient Summary) wurde bereits umgesetzt.
- Ebenfalls bereits umgesetzt ist die Erweiterung auf ORPHANET INSERM and SNOMED International release SNOMED CT to Orphanet map supporting representation and use .
- Erweiterung auf Fachvokabular der Gesundheitsberufe, z.B. International Classification for Nursing Practice reference set)
- Mapping von Laborterminologie auf LOINC-Codes über die in SNOMED CT eingebunden LOINC-Ontologie, sowie präkoordinierte Ausdrücke.
- Verlinkung mit Informationsressourcen.
- Kontinuierliche Erweiterung der Terminologie durch den Einsatz von Large Language Models.
- Schnittstellen zur Spracheingabe (z.B. Dragon Medical)
- Text Mining / NLP (Natural Language Processing). Hier sind zwei Aufgaben hervorzuheben:
- Die Aufarbeitung von textuellen Bestandsdaten durch Inhaltsanalyse und automatische Annotation unter Verwendung spezifischer Ressourcen aktueller Technologien wie Deep Learning und Large Language Models. Hierzu bietet sich beispielsweise die Textanalyseumgebung Health Discovery der Fa. Averbis GmbH (Freiburg i. Br., Deutschland) an.
- Die automatische Codierung an der Quelle durch den von Averbis entwickelten Speech-to-Structure-Ansatz. Hierbei wird der durch Spracherkennung erzeugte Text in Echtzeit analysiert, mit Terminologiecodes im Kontext angereichert und auf eine Struktur abgebildet. Als Terminologie würde SNOMED CT eingebunden, basierend auf der SCT-GIT.
- Mapping österreichischer Prozeduren und Einzelleistungen auf SNOMED CT.
- Mapping des österreichischen Arzneispezialitätenregisters auf SNOMED CT
Projektschritte
- Information aller Zielsteuerungspartner
- Einhelliges Bekenntnis, die beschriebene Methode und Technologie einzusetzen, um das beschlossene Ziel der Diagnosecodierung im niedergelassenen Bereich zu erreichen.
- Einrichtung und Finanzierung eines Pilotprojektes mit folgenden Zielen und Aktivitäten:
- Ziel: Weiterentwicklung der SNOMED-CT-basierten österreichischen Referenzterminologie (SNO_ART) und eines intuitiv bedienbares Suchwerkzeugs zur Diagnosecodierung in ICPC, ICD10 und SNOMED CT.
- Aktivitäten: (i) Entwicklung auf Basis der KL/OEGAM Referenzterminologie und der an der Meduni Graz in weiterer Entwicklung befindlichen Interfaceterminologie (SCT-GIT), (ii) Integration des Suchwerkzeuges über API in AIS (Arztinformationssysteme), inklusive Umbau der Datenbanken und Integration in Benutzeroberflächen von AIS. Bereitstellung über Webservice, (iii) Definition und Programmierung einer Datenschnittstelle für Datenexport maschinenlesbarer Codes aus den AIS, (iv) Evaluierung der Daten über eine Kompetenzstelle.
- Etablierung und Finanzierung eines Expertise-Zentrums mit der Aufgabe, die österreichische Referenzterminologie mit vollständiger Integration des BfArM-Thesaurus und Annotation auf SNOMED CT inklusive Übersetzung der SNOMED CT-Terme weiterzuentwickeln und auf weitere Bereiche zur Umsetzung der Interoperabilität von KIS (Krankenhausinformationssysteme) und AIS (Substanzcodes, Laborcodes, Prozedurencodes) auszuweiten.
Literatur
Mapping häufiger OPS-Codes auf SNOMED CT. Methodenbeschreibung und Resultate
Beschreibung der Interface-Terminologie
Stand 23. Mai 2024
ICD und SNOMED CT: Integration über gemeinsame deutschsprachige Referenzterminologie
Stellungnahme von Univ.-Prof. Dr.med. Stefan Schulz (Medizinische Universität Graz) zur Verwendung von SNOMED CT und ICD-10 in Österreich
23.2.2024
Die WHO-Klassifikation ICD ist konzipiert für Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken und spielt eine überragende Rolle für die internationale Vergleichbarkeit von Todesursachen. Sie dient aber vielerorts auch als Grundlage der stationären Abrechnung. In elektronischen Krankenakten stellen ICD-Codes oft die einzige standardisierte Quelle für maschinelle Auswertungen dar. Auch sekundäre Nutzungsszenarien verwenden Abrechnungscodes mangels anderer Daten außer Freitext. Doch leider ist die ICD dafür nur bedingt geeignet. Ihre Detailgenauigkeit bezüglich der differenzierten Abbildung klinischer Gegebenheiten variiert stark zwischen Fachgebieten. So erlaubt die ICD weitgehend keine Unterscheidung zwischen Tumorarten und deckt Symptome und Befunde nur lückenhaft ab. Das der ICD zugrunde liegende Regelsystem, welches die Nicht-Überlappung der ICD-Klassen sicherstellt, wird in der Praxis meist missachtet. Fachgebiete, die selbst von der Kodierung kaum profitieren, kodieren ungenau und lückenhaft, da die ICD ausschließlich als Hilfsmittel zur Abrechnung wahrgenommen wird. Ein Defizit für die Analyse ICD-kodierter Daten ist auch die Baumstruktur der ICD, die Aggregationen nur aufgrund der Kapitelstruktur zulässt. So sind beispielsweise Krankheiten, Befunde und Symptome der Lunge auf acht verschiedene Kapitel verteilt.
Die Kompatibilität zwischen ICD-Versionen ist eingeschränkt. Probleme des Mappings zwischen ICD-9 und ICD-10 sind seit langem bekannt [1]. Auch die neue Version ICD-11 hat einen deutlich veränderten Aufbau [2]; ihre Einführung wird sich über Jahre erstrecken. Schließlich gibt es zahlreiche länderspezifische Modifikationen der ICD, in denen Inhalte sowohl ergänzt als auch gestrichen wurden. Nur für die Todesursachenstatistik ist die Originalversion der WHO verpflichtend, doch kommen hierbei geschulte Kodierkräfte zum Einsatz und nicht die behandelnden Ärzte.
Seit Jahrzehnten [3] hat sich die SNOMED-Terminologie (ursprünglich: Systematized Nomenclature of Medicine) als Mittel zur semantischen Normierung von Inhalten der Patientendokumentation entwickelt. Von Anfang an hatte sie eine höhere Granularität und Detailgenauigkeit als die ICD-10, zumal sie nicht nur Krankheiten und klinisch relevante Zustände, sondern auch Codes für Prozeduren, Erreger, Wirkstoffe, Geräte und Laborparameter ebenso wie für die gesamte menschliche Anatomie anbietet. Doch erst seit der Gründung der Non-Profit-Organisation SNOMED International [4] 2007 ist diese Terminologie in ihrer Version SNOMED CT international im Vormarsch. SNOMED CT wird kontinuierlich aktualisiert, um den sich ständig ändernden Anforderungen der medizinischen Praxis gerecht zu werden und sich als primäre Terminologie für die elektronische Gesundheitsakte zu etablieren. Sie wird zunehmend in klinische Informationssysteme integriert. Hunderte von Experten in über 40 Mitgliedsstaaten von SNOMED International widmen sich der Weiterentwicklung und der Implementation der Terminologie und treiben die Vereinheitlichung mit anderen semantischen Standards wie HL-7 FHIR und LOINC voran.
Dass SNOMED CT die Interoperabilität zwischen Gesundheitseinrichtungen und insbesondere den nahtlosen Austausch von klinischen Daten über politische und sprachliche Grenzen ermöglicht, hat die Europäische Kommission im Jahr 2016 veranlasst, SNOMED CT als Referenzterminologie zu empfehlen und gleichzeitig in ein Ökosystem von Terminologien einzubinden, zu denen auch die WHO-Klassifikationen und sogenannte Interface-Terminologien, nämlich Kollektionen von in der Praxis verwendeten, nichtstandardisierten Medizintermini gezählt werden [7].
Von der Koexistenz zwischen ICD und SNOMED CT ist daher auch in Zukunft auszugehen. Da eine Harmonisierung zwischen den beiden Systemen aufgrund ihrer unterschiedlichen Struktur und Semantik zwar angedacht [7] aber nicht realisiert ist, erscheint als praxis- und kliniktaugliche Lösung für Österreich die Erstellung einer umfassenden, mit ICD und SNOMED harmonisierten deutschen Referenzterminologie, die intuitiv und benutzerfreundlich die ICD-Kodierung in der gegenwärtigen Art erlaubt, aber im selben Schritt SNOMED-Codes in einer wesentlich höheren Genauigkeit erzeugt. So wird einerseits die Kodierung mit ICD fortgeführt und können andererseits weitergehende Kodierungen wie beispielsweise vom International Patient Summary geforderte (für das bereits SNOMED-Mappings zu deutschen Referenztermen vorliegen) unterstützt werden.
Literatur
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[1] Schulz S, Zaiss A, Brunner R, Spinner D, Klar R. Conversion problems concerning automated mapping from ICD-10 to ICD-9. Methods Inf Med. 1998 Sep;37(3):254-9. PMID: 9787625
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[2] Jakob R. ICD-11 – Anpassung der ICD an das 21. Jahrhundert [ICD-11-Adapting ICD to the 21st century]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2018 Jul;61(7):771-777. German. doi: 10.1007/s00103-018-2755-6. PMID: 29869704
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[3] Cornet R, de Keizer N. Forty years of SNOMED: a literature review. BMC Med Inform Decis Mak. 2008 Oct 27;8 Suppl 1(Suppl 1):S2. doi: 10.1186/1472-6947-8-S1-S2. PMID: 19007439
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[4] SNOMED International: https://www.snomed.org/
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[5] Cangioli G, Chronaki C, Kalre D, Schulz S, Stroetmann V, Thiel R, Thun S. (2016). How fit is SNOMED CT for eHealth interoperability in Europe? Panel at MIE–Medical Informatics Europe, Munich, Aug. 28th to Sept 2nd, 2016
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[6] Kalra D, Schulz S, Karlsson D, Vander Stichele R, Cornet R, Rosenberg Gøeg K, Cangioli G, Chronaki C, Thiel R, Thun S, Stroetmann V. ASSESS CT Recommendations. Assessing SNOMED CT for Large Scale eHealth Deployments in the EU. http://assess-ct.eu/final-brochure.html
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[7] Schulz S, Rodrigues JM, Rector A, Chute CG. Interface Terminologies, Reference Terminologies and Aggregation Terminologies: A Strategy for Better Integration. Stud Health Technol Inform. 2017;245:940-944. PMID: 29295238.