Die ÖGAM – seit 1966
Schon vor dem zweiten Weltkrieg zeichnete sich in den USA ein zunehmender Trend hin zum Spezialistentum ab, Allgemeinmediziner wurden aus den Krankenhäusern verdrängt, Jungärzte strebten Facharztausbildungen an – dem versuchten die Gründerväter der Allgemeinmedizin entgegenzutreten. Die allererste „Academy of General practice“ wurden Ende der 40er Jahre in den USA gegründet, es folgten Kanada und England (1952 „Royal College of General Practitioners“). Auch im deutschsprachigen Raum fanden sich engagierte Allgemeinmediziner zusammen, 1959 erfolgte die Gründung der „Gesellschaft für praktisch angewandte Medizin“ (College of Medical Practice, später Societas Internationalis Medicinae Generalis, SIMG) unter Mitwirkung von Dr. Robert Braun aus Brunn an der Wild und engagierten Kollegen aus der damaligen BRD, DDR und der Schweiz. Die ersten Weltkongresse der wissenschaftlichen Colleges und Gesellschaften fanden 1964 in Montreal, 1966 in Salzburg und 1968 in New Dehli statt.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wurde die Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) im November 1966 in Innsbruck gegründet, ihr erster Präsident war DDr. Geiger, Tirol, Vizepräsidenten Dr. Gottfried Heller (Kärnten) und Dr. Robert Winter (Steiermark). Von Anfang an war geplant, sich neben Betonung der Wissenschaftlichkeit auch für eine praxisgerechte Fortbildung, eine moderne Praxisführung, die Lehrpraxis, die Praxisfamulatur und die Lehre der Allgemeinmedizin an den Universitäten einzusetzen. Es gab eine enge Zusammenarbeit zwischen SIMG und ÖGAM, die jährlichen Kongresse der SIMG fanden bis 1992 in Klagenfurt unter Mitwirkung der ÖGAM statt.
Nach einigen Jahren mit wenig Aktivität gelang es 1975 OMR Dr. Heller, die ÖGAM als einzige österreichische wissenschaftliche Vereinigung für Allgemeinmedizin wiederzubeleben. Neben seinem Lehrauftrag für Allgemeinmedizin an der Universität Graz richtete er Famulatur-Lehrpraxen für Studenten ein und führte die Lehrpraxis für Allgemeinmediziner ein. In Wien waren schon Dr. Gerhard Tutsch und Dr. Hans Tönies sehr engagiert tätig, es konnte ein Lehrauftrag für Allgemeinmedizin geschaffen werden. Allmählich wurden in anderen Bundesländern Landesgesellschaften unter dem Dach der ÖGAM gegründet (Wien, OÖ, NÖ, Burgenland). 1969 fand der erste Kongress der STAFAM unter der Leitung von OMR Dr. Alfred v. Chizzola, später unter Dr. Walter Fiala in Graz statt, der sich mittlerweile zum größten Allgemeinmedizinkongress Österreichs entwickelt hat. Im Juni 1990 wurde die ÖGAM durch den unerwarteten Tod des Präsidenten OMR Dr. Gottfried Heller erschüttert. Der damalige Vizepräsident Dr. Gerhard Tutsch, langjähriger Weggefährte Dr. Hellers, übernahm bis Herbst 1991 die Führung. Auf Dr. Wutzl als Präsident folgte 1993 Dr. Erwin Rebhandl, OÖ. Er blieb bis 2010 ein sehr aktiver Präsident der ÖGAM, modernisierte die ÖGAM, mit neuen Statuten erhielt die ÖGAM eine den heutigen Verhältnissen angepasste Struktur. Mit Dr. Reinhold Glehr, ÖGAM-Präsident 2010 bis 2015, konnte die ÖGAM in vielen Arbeitsgruppen an der Gesundheitsreform und Ausbildungsreform mitwirken, das Konzept „Das Team rund um den Hausarzt“ wurde inhaltlich von der ÖGAM mitentwickelt, die Codierung mit ICPC2 wurde für die Allgemeinmedizin festgelegt. Ab 2015 bis 2022 setzte Dr. Christoph Dachs aus Hallein diese Entwicklungen fort, intensiv unterstützt von Dr. Susanne Rabady – langjährige Vizepräsidentin der ÖGAM, welche 2022 zur ersten Präsidentin der ÖGAM gewählt wurde. Durch ihr Engagement wurden Projekte wie der Masterplan Allgemeinmedizin, das Codierungsprojekt ICPC2 gemeinsam mit Dr. Christoph Powondra, das POC-Tool “COVID-19 Plattform für Primärversorgung”und das Long-COVID Webtool in Kooperation mit der Karl-Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften umgesetzt.
Die ÖGAM arbeitet in zahlreichen internationalen Gremien aktiv mit. Nach der Vereinigung von WONCA Europe und SIMG im Jahr 1995 trat die ÖGAM der WONCA bei. und ist in den WONCA-Gremien und -Arbeitsgruppen wie EURACT, EGPRN, EQUIP, EURIPA und EUROPREV aktiv vertreten.
Ein wichtiger Meilenstein in der ÖGAM-Geschichte war der 6. Europäische Kongress für Allgemein- und Familienmedizin (WONCA-Europe 2000 VIENNA) in der Hofburg unter der Leitung von Dr. Erwin Rebhandl und Prof. Dr. Manfred Maier in Wien. Zu dieser Konferenz kamen über 2200 Teilnehmer aus aller Welt nach Wien, sie hatte großen Einfluss auf die weitere positive Entwicklung der Allgemeinmedizin in Österreich. Die ÖGAM wurde als Partner in gesundheitspolitischen Fragen zunehmend anerkannt und zu wesentlichen gesundheitspolitischen Themen um ihre Expertise gefragt.
Im Jahr 2012 konnte der WONCA-Europe-Kongress noch einmal in Wien, diesmal im Austria-Center mit nunmehr 3000 Teilnehmern, veranstaltet werden. Neuerlich wurde diese Tagung ein wichtiges Signal an die Gesundheitspolitik. Ärztliche Kunst im Zusammenspiel mit der Wissenschaft war das Generalthema. Die Kongressleitung übernahm Dr. Gustav Kamenski, das wissenschaftliche Programm erstellte Prof. Dr. Manfred Maier.
Seit dem Jahr 2002 veranstaltet die ÖGAM ihre einwöchige Wintertagung im Jänner bis 2023 am Arlberg, 2024 wechselt die Wintertagung nach Bad Hofgastein. Der besondere Rahmen ermöglicht alljährlich zukunftsweisende Diskurse über die Entwicklung der Allgemeinmedizin.
Das finnische Projekt „EBM-Guidelines für Allgemeinmedizin“ wurde von einem Team unter der Leitung von Dr. Susanne Rabady für österreichische Verhältnisse umgesetzt. Mehr als 1000 Artikel wurden aus dem Englischen übersetzt, laufend reviewt und für Österreich adaptiert. Es gibt das Buch seit 2005 (mittlerweile in 7. Auflage), die elektronische Version seit 2006.
Die JAMÖ (Junge Allgemeinmedizin Österreich, Young GPs Austria) wurde als assoziierte Organisation der ÖGAM 2006 gegründet und später ordentliches Mitglied der ÖGAM. Die erste Obfrau war Dr. Julia Baumgartner, die auch die Vasco da Gama – Preconference WONCA Vienna 2012 organisierte. Ihr folgten Maria Wendler, Sebastian Huter und Richard Brodnig nach, welchen es gelang, die JAMÖ weiter zu entwickeln. 2024 gelingt es der JAMÖ den europäischen Jugendkongress des EYFDM (European Young Family Doctors Movement vormals Vasco da Gama Movement der WONCA) nach Österreich zu holen.
Die ÖGPAM, die Österreichische Gesellschaft für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin in der Allgemeinmedizin, die aus einer Arbeitsgruppe der ÖGAM hervorgegangen ist, wurde 2013 als Zweigverein gegründet um den besonderen Stellenwert der Psychosomatik in der Allgemeinmedizin zu betonen. Ihr erster Präsident war Dr. Bernhard Panhofer, gefolgt von Dr. Barbara Hasiba.
Die universitäre Verankerung und die postpromotionelle allgemeinmedizinische Lehrpraxis sind seit Beginn Schwerpunkte der Arbeit. Prof. Dr. Manfred Maier hatte bis zu seiner Pensionierung 2016 den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der Med.Universität Wien inne. 2006 wurde Prof. Dr. Andreas Sönnichsen mit dem Lehrstuhl der PMU Salzburg betraut, den 2012 Frau Prof. Dr. Maria Flamm übernahm. 2015 wurde Prof. Dr. Andrea Siebenhofer mit der Leitung des neu gegründeten Instituts für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung der MedUni Graz betraut. Es folgten die weiteren Professuren in Österreich: Dr. Susanne Rabady übernimmt 2019 die Leitung des Kompetenzzentrum für Allgemein-und Familienmedizin an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, nach wertvollen Vorarbeiten von Dr. Erwin Rebhandl und der OBGAM wird Assist. Prof. Dr. Erika Zelko 2021 Professorin und Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin an der JKU Linz, an der Med. Universität Innsbruck (nach unermüdlicher Vorarbeit von Dr. Herbert Bachler und der TGAM) wurde Prof. Dr. Alfred Doblinger Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin 2022. Nachdem es in Wien nach Pensionierung von Dr. Manfred Maier keinen eigenen Lehrstuhl gab, erhielt nach einem kurzen Intermezzo mit Prof. Dr. Sönnichsen während der Covid-Pandemie (2019-2021) letztendlich Prof. Dr. Kathryn Hoffmann 2023 die Professur für Primary Care Medicine und die Leitung der Abteilung Primary Care Medicine.
Die ÖGAM hat unermüdlich auf die Wichtigkeit der praxisnahen Ausbildung für junge Allgemeinmediziner hingewiesen. Im neuen Ausbildungsgesetz für Ärzte ist nun die verpflichtende, sechsmonatige Lehrpraxisausbildung festgeschrieben, die in den nächsten Jahren auf 12 Monate verlängert werden soll. 2016 wurde dazu ein Konzept zur Ausbildung von Lehrpraxisleitern entwickelt, das derzeit in Zusammenarbeit mit den Landesärztekammern umgesetzt wird.
Die ÖGAM ist in unzähligen Gremien und Arbeitsgruppen auf Bundesebene und Landesebene vertreten, sowohl in ihrer beratenden Funktion über die Berufstheorie und Fachspezifität der Allgemein-und Familienmedizin als auch in fachlichen Diskussionen zu medizinischen Themen wie Schmerz, Diabetes, u.ä.
Mitunter dieser kontinuierlichen Arbeit der ÖGAM und ihrer Mitgliedsorganisationen, insbesondere auch der JAMÖ, ist es zu verdanken, dass die Anerkennung des Faches Allgemein-und Familienmedizin als eigene Spezialität letztendlich auch in Österreich Chance zur Umsetzung bekam (2023).
Die ÖGAM ist in den 50 Jahren ihres Bestehens von einer kleinen Gruppe engagierter Pioniere zu einem unübersehbaren Player im österreichischen Gesundheitswesen gewachsen. Ihre Bedeutung ist gerade in einer Umbruchzeit, wie sie derzeit vorliegt, unverändert groß, um den Patientinnen und Patienten Österreichs eine gute, soziale und solidarische, wohnortnahe medizinische Grundversorgung für die Zukunft zu sichern.