Jeder von uns hat eine Vorstellung vom Werdegang eines Mediziners: Studium, Turnus, Übergangslösung Praxisvertretung, und dann endlich „die eigene Ordi“. Doch ist diese Vorstellung noch zeitgemäß?
Dass ein Arzt unbedingt 24 Stunden, sieben Tage in der Woche, für seine Patienten da sein muss, wird längst nicht mehr erwartet. So etwas konnte früher auch nur gelebt werden, wenn von allen Seiten eine gewisse Disziplin vorhanden war – den Doktor (zumeist männlich) störte man nicht nach Sonnenuntergang. Irgendwie kamen die Patienten in der Nacht über die Runden und suchten erst am nächsten Morgen ärztliche Hilfe. Im Hintergrund war der Ärztepartner (zumeist weiblich) selbstverständlich um das Wohl der Familie besorgt und leistete oft auch gleichzeitig seinen bzw. ihren Beitrag als Ordinationshilfe.
Mittlerweile ist der Frauenanteil im Arztberuf gewachsen; in der Allgemeinmedizin beispielsweise sind bereits mehr Damen als Herren vertreten. Nicht nur die Ärztinnen, auch die Ärzte von heute wünschen sich Ausgewogenheit: Sie möchten Beruf, Freizeit sowie Partnerschaft/Familie unter einen Hut bringen können. Zusätzlich sollte auch der Besuch von Fortbildungen während der Ordinationszeiten möglich sein, und natürlich auch im eigenen Krankheitsfall die Versorgung der Patienten nicht leiden. Im Sinne der Kundenfreundlichkeit werden längere Öffnungszeiten im niedergelassenen Bereich diskutiert, und dieser Idee wird zum Teil bereits nachgekommen.
All das ist nur möglich, wenn es auch Ärzte gibt, die bereit sind, die Arbeit zu leisten, für die sonst niemand zur Verfügung stünde: flexible Teilzeitärzte bzw. Vertretungsärzte.
Unmerklich erfahren wir also einen Paradigmenwechsel vom Zwischenstopp in der Karriere eines Mediziners zum eigenständigen Beruf, der aus einem funktionierenden Gesundheitssystem nicht mehr wegzudenken ist. Vom Beruf zur Berufung: Längst nicht mehr sind die Vertretungsärzte nur die ganz jungen, die erst Erfahrungen sammeln müssen und sich bei Patienten entschuldigen, „nur“ die Vertretung zu sein. Immer mehr dieser Vertretungsärzte sind älter, beruflich erfahren, wissen, was sie wollen – und bleiben, von der Lebbarkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit überzeugt, in dieser Phase „hängen“: Nicht immer folgt zwingend der Schritt zur „eigenen Ordi“. Sie nehmen die Vertretungstätigkeit als einziges Standbein, oder als zweites, parallel zu einer anderen Beschäftigung, wahr; sie interessieren sich für einzelne Tage, Urlaubsvertretungen oder auch für die sogenannten Dauervertretungen (letztere waren in der Vergangenheit aus rechtlichen Gründen – quasi Angestelltenverhältnis – strikt verboten, mittlerweile werden sie unter bestimmten Bedingungen toleriert).
Die Erwartungen an die Tätigkeit als Vertretungsarzt sind also von beiden Seiten anders geworden, das Prozedere ist allerdings noch dasselbe geblieben: Jeder Vertretungsarzt kümmert sich alleine und ist eigenverantwortlich – Akquise, Honorarverhandlungen, Versicherungen, Steuerabrechnung, Medikamente für den Arztkoffer, und nicht zuletzt die eigene Fort- und Weiterbildung. Einiges spricht dafür, dass unter Zuhilfenahme einer Organisation, und sei es auch nur in Form eines losen Zusammenschlusses von mehreren Vertretungsärzten innerhalb einer mehr oder weniger großen Region, mehr erreicht werden könnte als als Einzelkämpfer: Jobangebote, Berichte über Probleme, die während der Arbeit aufgetreten sind und gemeinsames Erarbeiten von Lösungsvorschlägen, gemeinsamer Einkauf von Notfallmedikamenten und dadurch Kostenersparnis usw. Möglich ist also, dass sich in Zukunft eine solche Struktur herauskristallisiert, lassen wir uns überraschen.
Wir brauchen sie jetzt und werden sie immer notwendiger brauchen, die Vertretungsärzte – nicht zuletzt dann, wenn durch die in wenigen Jahren bevorstehende Pensionierungswelle von Ärzten Arbeit anfallen wird, die irgendjemand leisten muss. Spätestens dann müssen wir ihnen den Stellenwert zugestehen, den sie bereits jetzt innehaben: Sie sind ein eigener Berufsstand.
Dr. Cornelia Croy,
Ärztin für Allgemeinmedizin, Wien