Während in der Vergangenheit vor allem medizinische Fachdisziplinen mit hoher Risikodichte wie Chirurgie, Anaesthesie, interventionelle innere Medizin sich präventiv mit möglichen Fehlern systematisch beschäftigt haben, hat sich in den letzten Jahren das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Fehlerkultur mit dem Ziel größtmöglicher Patientensicherheit insbesondere auch in der Allgemeinmedizin entwickelt. Natürlich war es schon bisher ein wichtiges Anliegen, dass Patienten im Rahmen der routinemässigen medizinischen Betreuung nicht zu Schaden kommen, aus den angloamerikanischen Ländern kommend haben sich jedoch methodische Ansätze entwickelt, die der Vorbeugung unerwünschter Ereignisse und deren meist multifaktoriellen Ursachen besser Rechnung tragen. Fehler und unerwünschte Vorfälle werden sich im medizinischen Bereich immer ereignen, es gibt jedoch Evidenz, dass ein Fehlerbewusstsein mit gut entwickelter Diskussionsbereitschaft die Wahrscheinlichkeit des Auftretens reduziert. Wichtige Bausteine der Fehlerkultur sind einerseits Führungsqualität, die den Mitarbeitern durch Vorbild und direkte Unterstützung zur Seite steht, andererseits Risikobewusstsein und die Bereitschaft über erkannte oder erlebte Risiken zu berichten. Durch systematische Sammlung einer größeren Zahl von Fällen können die pro Praxis eher nur als Einzelfälle auftretenden Ereignisse im System bearbeitet werden.
Was sind Fehler?
Das weite Spektrum von Fehlermöglichkeiten im medizinischen und pflegerischen Alltag läßt sich nur schwer klassifizieren. Eine Möglichkeit ist die nach der Schwere des Vorfalls:
- unerwünschtes Ereignisse (adverse events)
- gefährliche Situationen (critical incidents)
- Beinahe-Fehler (near misses)
- latenter Fehler bzw. potentielle Bedrohungen (latent error)
Schwere Zwischenfälle und Komplikationen sind dank der Qualität unseres medizinischen Systems in der Allgemeinmedizin relativ selten. Zwar ist es unbedingt notwendig bei einem derartigen Einzelereignis die allgemeine Sicherheit durch genaue Analyse zu verbessern, die Auseinandersetzung mit den häufigeren “banalen” Ereignissen, gewissermaßen den Vorstufen, die sich unter bestimmten Bedingungen verhängnisvoll entwickeln können, stellt aber eine breitere Basis für die Optimierung des Systems dar. Diese Vorfälle bzw. Beinahevorfälle zu erfassen und zu klassifizieren ist der Kern der neuen Fehlerkultur. Die kleinen und grossen Sicherheitslücken im System sollen geschlossen werden, um die Zahl künftiger Fehler zu verringern.
Eine andere Möglichkeit ist die Einteilung nach der Art der gesetzten oder unterlassenen Maßnahmen, durch die ein unerwünschtes Ereignis eingetreten ist oder hätte eintreten können: Medikation, Diagnose, Therapie, Kommunikation, Organisation, etc. Wobei hier gleich erwähnt sein soll, dass eine sich als falsch herausstellende Diagnose oder eine Untersuchung, die sich nachträglich als nicht notwendig herausstellt, nicht primär ein Fehler sein muss, da die Arbeit mit Verdachtsdiagnosen oder mit Ausschlussdiagnosen zum medizinischen Alltag gehört.
Die möglichen Ursachen bieten sich ebenfalls zur Kategorisierung an:
- nicht vom Arzt beeinflussbare (z.B. Medikamentennebenwirkungen, mangelnde Wirkung, fehlende Compliance etc.)
- Ausbildungsmängel, Wissenslücken
- Fehlverhalten, Fehlorganisation innerhalb der Praxis (mangelnde Sorgfalt , Arbeitsüberlastung, schlechte Praxisorganisation etc.)
- Durch strukturelle Vorgaben von außen provozierte Fehler (Systemvorgaben, eingeengte Handlungsspielräume etc.)
Ebenen der Fehlerkultur
Die Bemühung um Fehleranalyse und -prävention spielt sich derzeit vorwiegend auf drei Ebenen ab:
- praxisintern
- praxenübergreifend im Qualitätszirkel
- überregional durch ein computergestütztes Fehlerberichts-und Lernsystem.
Ad1. Auf Praxisebene ist die Entwicklung einer Kultur des Fehler- und Sicherheitsbewusstseins mit systematischer Fehlerbericht und Fehleranalyse von Bedeutung. Es gilt dabei den Mitarbeitern das Klima zu vermitteln, dass überall und von jedem Fehler gemacht werden, wir aber nur dann etwas aus diesen lernen können, wenn sie erkannt, mitgeteilt und analysiert werden. Ein Anklagen derjenigen, die zu diesem Zweck freiwillig ihre Fehler offenlegen, muss – wann immer möglich- vermieden werden.
Ad 2. Eine Möglichkeit, Fehler aufzuarbeiten, biete sich im Rahmen von ärztlichen Qualitätszirkeln an, wo das oben gesagte gleichermaßen gilt. Sie haben sich als wichtiges Werkzeug der Qualitätssicherung etabliert und in Österreich erfreulich entwickelt. Qualitätszirkel sind Arbeitsgruppen von 6-12 Ärzten, die auf freiwilliger Basis, mit selbstgewählten Themen, erfahrungsbezogen, wissenschaftsgestützt, auf der Grundlage des kollegialen Diskurses (= peer review), themenzentriert, systematisch, zielbezogen, kontinuierlich, von einem zum Moderator ausgebildeten Kollegen geleitet, protokolliert an der Verbesserung der Alltagsarbeit arbeiten. Hier besteht die Möglichkeit im vertrauten Kreis, strukturiert Fälle zu berichten und zu analysieren, systematisch über Verbesserungen bzw. über vorbeugende Maßnahmen nachzudenken. Die Qualitätszirkel eignen sich für die Bearbeitung von Einzelfehlern, aber auch für den Wissenserwerb im Bereich Patientensicherheit bzw. Fehlerkultur allgemein. Auch die Entlastung durch Erörterung von vermeintlichem und tatsächlichem Fehlverhalten ist eine Stärke des Qualitätszirkels. Die österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin hat sich des Moderatorentrainings vor 11 Jahrn angenommen und ca 370 Ärzte aller Disziplinen mit der Qualitätszirkelarbeit vertraut gemacht.
Ad 3. Auf der überregionalen Ebene sind die anonymen Fehlermelde- und Lernsysteme zu nennen. Die österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin hat sich dem System der Abteilung für Allgemeinmedizin, Universität Frankfurt, Prof. Gerlach, angeschlossen ( “Jeder Fehler zählt” – http://www.jeder-fehler-zaehlt.de). Dies ist ein freiwilliges, anonymes Berichtssystem für Fehler und kritische Ereignisse im Hausarztbereich. Ein weiteres System ist CIRSmedical (http://cirsmedical.at).
Anonym kann hier über eine gesicherte Internetverbindung über Fehler, kritische Ereignisse und Beinahe-Fehler berichtet werden. Als Fehler wird definiert, was der/die potentiell Berichtende als Fehler empfindet. Kein Fehler ist zu unwichtig oder zu schwerwiegend, um nicht in diesem System gemeldet werden zu können. Sei es, dass es sich um administrative Fehler handelt, die „nur“ Zeit kosten, um medizinische Fehleinschätzungen, die zu unterlassenen oder ausgeführten Handlungen führen, oder dass es sich um Fehler auf Seiten der beteiligten Patienten, Apotheken und anderer Institutionen handelt. Mit einem Online-Fragebogen werden Details zum Ereignis, zu eventuell verwendeten Medikamenten und zu Besonderheiten der Patienten mit Hilfe von Listen und Freitextfeldern abgefragt. Um die Schwelle für die Berichterstatter herabzusetzen sind einige Fragen zur strukturierenden Hilfestellung vorgegeben. Der beschreibende Text hat Vorrang über die vorstrukturierten Teile.
Die Berichte werden zunächst verschlüsselt, dann von auf einen zweiten von außen nicht zugänglichen Server übertragen und von ärztlichen Mitarbeitern des Institutes für Allgemeinmedizin auf ihre Anonymität geprüft. Die Fehler werden kategorisiert und die Berichte anschließend in eine Datenbank gestellt. Aus allen Meldungen wird ein „Fehler der Woche“ bzw. ein „Fehler des Monats“ eruiert und auf der Homepage zur Diskussion gestellt. Alle Benutzer haben einen Monat Zeit um ihre Kommentare zu den jeweiligen Fällen anzufügen. Nach Ablauf dieser Frist werden die Kommentare zusammengefasst und publiziert. Die Auswertungen werden den Hausärzte auf der Homepage und mittels Veröffentlichungen in Fachzeitschriften zugänglich gemacht. Hauptsächlich finden diese regelmäßigen Publikationen in Deutschland in der Zeitschrift Der Hausarzt und in Österreich im Ärztemagazin statt.
Der Grundgedanke für dieses System basiert auf dem Anspruch, Fehler nicht erst selbst machen zu müssen, um aus ihnen zu lernen. Deshalb werden kritische Ereignisse und Fehler systematisch analysiert und ausgewertet, um auf diese Weise Erkenntnisse über Fehlerarten, -häufigkeiten und ihre Ursachen zu gewinnen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Fehler verursachenden Bedingungen gelegt. Ziel des Systems ist es, die Patientensicherheit in den Hausarztpraxen zu erhöhen.
Ein vergleichbares System stellt das Schweizer CIRS medical dar. Es ist ein Fehlermeldesystem, das von der Schweizer Gesellschaft für Allgemeinmedizin unterstützt wird. Es wurde vom Departement für Anästhesie am Kantonsspital Basel entwickelt und auf die Hausarztproblematik abgestimmt.
Critical incidents werden dort definiert als unerwartet auftretende gefährliche Situationen, die ohne oder trotz einer Intervention zu einem unerwünschten Ausgang, d.h. zu einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung eines Patienten/einer Patientin, zu einem Zwischenfall, geführt haben; oder, wenn der Schaden gerade noch abgewendet werden konnte, zu einem Beinahe-Zwischenfall.
Hier werden HausärztInnen ebenfalls dazu motiviert Zwischenfälle und Beinahe-Zwischenfälle anonym zu melden. Das Critical Incident Reporting hat zum Ziel, interessierten Kollegen kritische Ereignisse, die bei der Arbeit in der Grundversorgerpraxis aufgetreten sind, in einem passwortgeschützten Rahmen im Internet zugänglich zu machen, damit alle aus Fehlern lernen und sich verbessern können. In diesem Forum soll der Meldende ebenfalls ein Echo auf seine Meldung bekommen, sei es durch den Moderator oder durch KollegInnen.
Die Sammlung kritischer Ereignisse wird systematisch untersucht, Folgerungen daraus können auch verwendet werden, um die positiven Faktoren eines Systems zu verstärken. Sie hat einen hohen Informationsgehalt.und betont Elemente, die ein System besonders verletzbar machen. Sie ist besonders geeignet für seltene, atypische Ereignisse.und ermöglicht Einsicht in Bewältigungs- und Vermeidungsstrategien. Nachteile sind, dass nur Ereignisse, die bewusst realisiert und memoriert werden, in ein solches System eingehen können und dass Ereignisse betont werden, die eher selten sind, während sehr häufige, «banale» Ereignisse eher untergehen.
Zusammenfassung
International hat sich in der medizinischen Primärversorgung auf drei Ebenen eine Kultur im Umgang mit Fehlern entwickelt mit dem Bemühen, Fehler zu identifizieren, mögliche Ursachen abzuklären und darauf basierend Maßnahmen zur künftigen Verhinderung von unerwünschten Ereignissen zu setzen. Das systematische Berichten und Analysieren von kritischen Ereignissen ist ein wichtiges Element einer solchen Sicherheits- und Lernkultur. Die Sichtweise des Umgangs mit Fehlern hat sich in den letzten 10 Jahren geändert. War vorher eher eine personenbezogene, sanktionengefolgte Kultur üblich, ist jetzt eine Hinwendung zu systemischen Überlegungen zur Fehlerabwehr erfolgt. Anonyme, freiwillige Berichtssysteme haben im Gegensatz zu einem obligatorischen Meldesystemen das Potential, auf einer breiten Basis motivierend Systemschwächen und Fehler aufzuzeigen. Entwicklung von Fehlerbewusstsein im Praxisteam und im kollegialen Kreis des Qualitätszirkels sind das zweite Standbein der neuen Fehlerkultur.
http://cirsmedical.at