Wozu brauchen wir Leitlinien?
Behandlung nach der „Regel der Kunst“ war in der wissenschaftlichen Medizin immer schon die verpflichtende Grundlage für die Ausübung des ärztlichen Berufs.
„Freiheit“ in der Therapie war insofern immer schon nur gegeben, soweit sie sich im Rahmen des State of the Art hielt.
Bis vor nicht allzu langer Zeit ergab sich diese Regel der Kunst aus Wissen, Erfahrung und Überzeugung von als Autoritäten anerkannten Fachärzten – war also eine weitgehend subjektive Angelegenheit.
Inzwischen hat Art und Umfang medizinischen Wissens dieses System längst überholt und überrollt, für den Einzelnen ist es nicht mehr möglich, aus der Flut von Studien und Erkenntnissen herauszufiltern, was zuverlässig, aktuell und für sein eigenes Handeln bedeutsam ist.
Andererseits hilft Erfahrungswissen nur sehr begrenzt weiter: die menschliche Wahrnehmung läuft durch viele Filter und bringt sehr zufällige Resultate.Dazu kommt, dass wir nicht mehr nur Krankheiten behandeln, wir behandeln Zustände, die irgendwann und in einem Teil der Fälle, zu Krankheiten führen könnten: erhöhte Blutfette, erhöhten Blutzucker, Bluthochdruck, geschädigte Gefäßwände, um nur die gängigsten zu nennen. Dabei geht es um Zeiträume von vielen Jahren, die vom einzelnen Arzt nicht mehr zu überblicken sind – ärztliche Erfahrung kann daraus auf individueller Ebene nicht mehr entstehen: Intervention und Erfolg bzw. Misserfolg liegen viel zu weit auseinander.
Es wird also ein verändertes System des Wissenstransfers an den handelnden Arzt erforderlich, damit dieser überhaupt in die Lage versetzt wird, nach „bestem Wissen“ entscheiden zu können:
Leitlinien sind nichts anderes als der Versuch, diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden. Objektiviertes, gesichertes Wissen auf aktuellstem Niveau wird gesammelt, nach verbindlichen Regeln sichten und bewertet
Leitlinien sollen klären helfen, was die jeweils nach dem Stand der Entwicklung „richtige Behandlung“ ist. Sie sollen Sicherheit erzeugen und Risiken minimieren:
- Mit ihnen soll dem Patienten geholfen sein: er soll sich sicher sein, unabhängig von Zufällen die jeweils für seinen Zustand richtige Behandlung zu bekommen.
- Es soll dem Arzt geholfen sein: er soll sich sicher sein, den für seinen Patienten richtigen Weg zu kennen, das Beste für ihn zu tun, keine Fehler zu riskieren.
- Und es soll dem System geholfen sein: es soll sich sicher sein, öffentliches Geld gerecht und sinnvoll zu verteilen, Mittel so einzusetzen, dass der freie und gleiche Zugang zu den nötigen Leistungen auch für die Zukunft und für alle Bürger gesichert ist.
Das Werkzeug Leitlinie ist aber erst mitten in der Entwicklung, vor allem, was ihre Anwendbarkeit in der Allgemeinmedizin betrifft.
Wie werden Leitlinien erstellt?
Der erste Schritt nach der Wahl des Themas ist die Auswahl des erstellenden Gremiums: welche Experten werden nach welchen Kriterien eingeladen, welche Interessenskonflikte werden damit in die Gruppe eingebracht, welche davon sind deklariert, welche möglicherweise geeignet, Ergebnisse zu beeinflussen.
Als nächstes werden die Recherchefragen formuliert, und nach mittlerweile festgelegten Kriterien und einem festgelegten Procedere die Literaturrecherche mitsamt der kritischen Analyse der gefundenen Literatur vorgenommen. Große Studien sind meist industriefinanziert, weil öffentliche Gelder für die Forschung kaum mehr in nennenswertem Ausmaß zur Verfügung stehen. Etwaige resultierende Einflüsse auf die Studienqualität müssen gefunden und bewertet werden. Studien zum gleichen Thema, die nicht veröffentlicht wurden, weil die Ergebnisse nicht die erwünschte waren, sind zu berücksichtigen, soweit das überhaupt möglich ist, und es ist herauszufiltern, für welche Patientengruppen die Studienergebnisse überhaupt Gültigkeit haben können. Dabei fallen multimorbide Patienten fast immer heraus, ebenso Ältere, Kinder, häufig auch Frauen, Personen unterschiedlicher Ethnien etc.: Studien werden aus methodischen oder ökonomischen Gründen für diese Personengruppen nicht gemacht, oder die Ergebnisse werden nicht nach möglichen Einflüsse von Geschlecht oder Alter analysiert. Wir wissen also meist nicht, wieweit die Ergebnisse für diese Personen Gültigkeit haben.
Wenn bereits Leitlinien zu gleichen Thema verfügbar sind, sind diese zu finden, mit anerkannten Instrumenten (AGREE, DELBI) zu bewerten, und auf angemessene Weise in die neu zu erstellende Leitlinie einzubeziehen.
Diese Grundlagenarbeit ist äußerst mühsam und aufwändig, und längst nicht alle Leitlinien erfüllen die Vorgaben in dieser Hinsicht. Dennoch gibt es für dieses Stadium zumindest weitgehend unbestrittene Regeln, und auch die möglichen Fallen sind relativ gut bekannt.
Als nächster großer Schritt folgt die Bewertung der gefundenen Evidenz aus Studien, und die Umwandlung in konkrete Handlungsempfehlungen. Das ist derzeit die größte Herausforderung in der Leitlinienerstellung, dort finden sich die heikelsten Punkte.
Einige, für uns Hausärzte besonders wesentliche, werde ich hier herausgreifen:
Besonderheiten in der Allgemeinpraxis
Studien geben uns einigermaßen zuverlässig (mit den erwähnten Abstrichen) Auskunft über die Bereiche, die mit quantitativen Methoden erfassbar sind. In vielen Bereichen, vor allem in allgemeinmedizinisch relevanten, gibt es keine Studienevidenz. In anderen Bereichen verbieten sich wissenschaftlich hochwertige Studien aus ethischen Gründen, weil beispielsweise eine Behandlung mit Placebo vorhersehbare Nachteile für die Patienten mit sich brächte. Psychosoziale Aspekte wären, wenn überhaupt, nur mit komplexen qualitativen Methoden zu erfassen. Diese befinden sich aber erst im Entwicklungsstadium und sind als Grundlage für Leitlinien noch nicht akzeptiert. Hier müssen dann auch diejenigen Grenzen einfließen, die durch die zuvor erwähnte eingeschränkte Anwendbarkeit von Ergebnissen auf die unterschiedlichen Personengruppen gegeben sind.
Auf der spezialistischen Ebene müssen andere Kriterien gelten als auf der Ebene der Grundversorgung: andere Problemstellung, andere Personengruppen, andere Möglichkeiten. Das bedeutet, dass in den Leitliniengremien Experten jeder Anwenderebene vertreten sein müssen, und dass Empfehlungen im Grunde für jede dieser Ebene getrennt zu formulieren sind. Viele dieser Entscheidungen sind notwendigerweise subjektiv. Dann kommt es darauf an, welche Gruppenmitglieder ihre Vorstellungen durchsetzen.
Zur Anwendung von Leitlinien
Entscheidungsträger brauchen Instrumente, um Qualität im Gesundheitssystem sicher stellen zu können. Gute Leitlinien können sich zumindest in Teilbereichen für Steuerungsentscheidungen auf kollektiver Ebene eignen, wenn sie entsprechend sorgfältig angewandt werden.
Zur Kontrolle individueller Entscheidungen und Handlungen von außen eignen sie sich nicht: EBM ist immer Reduktion von Komplexität, auf der individuellen Ebene muss diese Komplexität wieder hergestellt werden.
Die Entscheidung über die Anwendbarkeit von Standards muss im Einzelfall getroffen werden, von gut ausgebildeten Ärzten zusammen mit ihren möglichst gut informierten Patienten: Die Kunst des ärztlichen Handwerks besteht in der Übertragung und in der Anwendung von Wissen.
EbM und Leitlinien in der täglichen Praxis
Aus diesem Grunde sind die „Ebm-Guidelines für Klinik und Praxis“ entstanden. Damit wird versucht, das verfügbare evidenzbasierte Wissen und bereits existierende, qualitativ hochwertige Leitlinien mit geprüftem, kontrolliertem Erfahrungswissen in eine Form zu bringen, die die Anwendung in der täglichen Praxis möglich macht. Das Resultat ist eine umfangreiche, konzise Sammlung von gut abgesicherten und ständig aktualisierten Praxisempfehlungen, die aus der eigenen Profession und über nationale Grenzen hinweg entwickelt wurden, und laufend angepasst und verändert werden, die auch regionale Unterschiede spiegeln, und im Bedarfsfall unterschiedliche Sichtweisen und Entscheidungsmöglichkeiten darlegen. Sie setzen Standards, und vermeiden Standardisierung.
Leitlinien sind vor allem für die Leitlinienanwender da. Wir Anwender müssen uns konsequent mit denjenigen Leitlinien befassen, die unser Fachgebiet betreffen. Wir müssen präsent sein, Gestaltungswillen zeigen, und aktiv und präzise formulieren, was wir von Leitlinien brauchen und erwarten – und was nicht, und warum. Dazu ist noch einiges an Reflexion unseres Faches und seiner Methodik nötig: spannende Zeiten.