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Wer rettet die Landmedizin?

Primary Care, Zauberwort und Sehnsuchtsort, Zankapfel und Allheilmittel in der gegenwärtigen Gesundheitspolitik. Landmedizin ist Primary Care, schon längst. Dort nämlich, wo der Hausarzt noch erster Ansprechpartner für die meisten gesundheitlichen Probleme seiner Patienten ist, die er oft viele Jahre mitsamt ihrem familiären, sozialen und beruflichen Umfeld kennt.  Aus dieser Aufgabenstellung heraus hat sich in vielen Landpraxen Modernisierung fast von selbst ergeben. Wir arbeiten in multiprofessionellen Teams, bestehend aus zumindest einer Verwaltungskraft und einer ausgebildeten Assistentin oder Krankenschwester, in etlichen Praxen ist auch ein Physiotherapeut im Team. Wir arbeiten mit der mobilen Pflege, weiteren nicht ärztlichen therapeutischen Berufen, Fachärzten und Spitälern gut und intensiv zusammen, wir haben Qualitätszirkel, Sprengelnetzwerke, und allen Widrigkeiten zum Trotz zu ärztlichen Zusammenarbeitsmodellen gefunden. Wir sind zumeist technisch-apparativ gut für eine umfassende Grundversorgung gerüstet, und wir verfügen über ein ziemlich breites diagnostisches und therapeutisches Spektrum, in der Akutmedizin und in der Betreuung chronisch kranker Menschen. Landmedizin ist moderne Medizin. Und dennoch wollen nur sehr wenige junge Mediziner Landärzte werden.

Ein Grund dafür liegt in der gesamtösterreichischen Misere im Gesundheitssystem. Der Beruf des Allgemeinarztes scheint zu wenigen Ärzte attraktiv genug, um ihn anzustreben, und die Tendenz ist sinkend. Dazu stehen wir am Beginn einer Pensionierungswelle: in den kommenden Jahren werden fast die Hälfte aller Hausärzte in Pension gehen.

Ein Mangel bei Hausärzten manifestiert sich zuerst und am stärksten in den ländlichen Regionen. Das ist auch der speziellen Problematik der ländlichen Infrastruktur geschuldet. Bildungseinrichtungen, kulturelles Angebot, Verkehrsanbindung, Kommunikationstechnologie spielen dabei eine Rolle. Wichtiger noch dürften jedoch die begrenzten beruflichen Möglichkeiten für die Partner sein. Das Praxismodell, in dem die Ehefrau des Arztes die Praxisorganisation übernimmt, ist nicht mehr für alle Frauen attraktiv, sie wollen in ihrem eigenen Beruf arbeiten. Ein steigender Teil der Allgemeinärzte sind zudem Ärztinnen, deren Partner als Ordinationsassistenten nur in wenigen Ausnahmefällen zur Verfügung stehen. Das heißt, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für die Partner sind notwendig.  Und es heißt auch: Die Ordination muss wirtschaftlich gut genug funktionieren, um externes Personal beschäftigen zu können. Landärzte sind keine Einzelkämpfer, sie brauchen ein gutes Team. Gerade in strukturschwachen Regionen sind hausärztliche Ordinationen wichtige Arbeitgeber für qualifizierte Berufe.

Die Attraktivität des Berufs (und des Landlebens!) zeigen sich erst, wenn man sie kennenlernen konnte. Allgemeinmedizin ist ein wunderschönes Fach – aber kein einfaches, die Anforderungen an den generalistischen Hausarztberuf sind hoch. In der Landmedizin ist das Spektrum noch breiter als in der Stadt, und es kommt die Notfallversorgung dazu. Doch Landärzte haben es gut, da sie oft der Hauptansprechpartner für ihre Patienten sind. Sie können die Patientenwege im Auge behalten, Zusammenhänge verstehen, und damit für die Kontinuität sorgen, die eine wirksame Betreuung und Behandlung sehr erleichtert.

Wir wissen auch aus Studien, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Niederlassung am Land steigt, wenn Praktika (Famulaturen) und Lehrpraxiszeiten in Landpraxen absolviert werden, und wenn junge Ärzte Rollenmodelle und Vorbilder aus ihrer Vergangenheit mitbringen wie etwa ihren eigenen Landarzt. Solange Kinder aus bildungsnahen und ökonomisch gut gesicherten Schichten eine viel höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, ein (Medizin-)Studium zu absolvieren, werden aus ländlichen Regionen weniger Ärzte kommen als aus den Städten. Es gilt daher, darüber nachzudenken, wie sich der Anteil von Landbewohnern unter den Ärzten erhöhen lässt.

 

Wenn wir genügend junge Ärzte für die Landmedizin gewinnen wollen, müssen auch die Rahmenbedingungen verbessert werden. Es werden sich keine Ärzte mehr finden, die bereit sind,  24 und 48 Stunden oder länger einsatzbereit zu sein – und das ohne anschließende Freizeit. Die nötige Verfügbarkeit und Zugänglichkeit erfordert zeitgemäße Modelle für die Randzeitenversorgung, die in einigen Bundesländern mittlerweile initiiert wurden und sich erfolgreich anlassen, wie z.B. in Oberösterreich, wo die Dienstsprengel vergrößert wurden und so die Einsatzzeiten verkürzt werden konnten.

Hausärztliche Leistungen werden derzeit fast durchgängig unterhonoriert.  Es ist eine österreichische Absurdität, dass Praxen bis zu mittlerer Größe, wie sie für eine optimale Patientenbetreuung angemessen wäre, ohne Hausapotheke kaum wirtschaftlich zu führen sind. Die Hausapotheken sind vor allem für Patienten wichtig, da diese andernfalls zusätzliche Mühen, Wege und Zeitverlust auf sich nehmen müssen – Ärzte dürfen in ihren Einkommen nicht von der Führung einer Hausapotheke abhängig sein.  An einer leistungsgerechten Honorierung wird kein Weg vorbeiführen

Auch gesellschaftlichen Veränderungen wird man Rechnung tragen müssen. Viele junge Kollegen wollen am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn angestellt sein oder zumindest nicht alleine in der eigenen Praxis arbeiten. Das Bedürfnis nach Flexibilität ist in den jüngeren Generationen höher, Familiengründungen geschehen später, und bis dahin möchten sich viele noch nicht örtlich binden – und schon gar nicht auf dem Land. Die jungen Ärzte, Männer wie Frauen, möchten in der Kleinkindphase ihren Familien auch häufiger zur Verfügung stehen und bevorzugen Teilzeitvarianten, worauf einzugehen sein wird. Es gibt, der Notwendigkeit folgend, bereits zahlreiche selbst gestaltete Zusammenarbeitsformen; gegen Widrigkeiten finanzieller und organisatorischer Natur, und trotz ökonomischer Unattraktivität. Gruppenpraxen, Netzwerke und die Anstellung von Ärzten müssen flexibel einzurichten und lohnend sein, dann wird es auch schnell mehr davon geben.  Solche Konstruktionen sind gut für alle Beteiligten: für die Patienten, weil sie die Verfügbarkeit erhöhen; für junge Ärztinnen und Ärzte, weil sie in die Hausarztpraxis hineinwachsen können; für ältere Kollegen, weil die hohe Arbeitslast und Arbeitsdichte reduziert werden kann. Selbstverständlich muss hier Geld hineinfließen, aber nicht annähernd jene Unsummen, die für die von der Politik geplanten „Primärversorgungszentren“ aufgewendet werden müssen, die nur dann Teil  einer Lösung sein werden, wenn sie organisch aus einer Region heraus entstehen und an die regionalen Bedürfnisse angepasst sind – und wenn sie dem Beruf lässt, was ihn attraktiv macht: Vielfalt, Kontinuität, Patientenbindung, Gestaltbarkeit, und Eigenverantwortlichkeit.

Wenn wir genügend Landärzte haben wollen, müssen wir aber zuallererst genügend Allgemeinärzte ausbilden. Und das scheitert an mehreren Hindernissen, wovon die vergleichsweise unattraktive Einkommenssituation nur eines ist. Der Großteil der Studenten in Österreich lernt die Hausarztmedizin während des Studiums gar nicht kennen, denn sie ist nicht durchgängig obligatorischer Bestandteil der Ausbildung. Nach der neuen Ausbildungsordnung ist zumindest eine sechsmonatige Ausbildung in der hausärztlichen Lehrpraxis zwar nun endlich verpflichtend geworden, aber diese Ausbildung ist in den meisten Bundesländern noch immer nicht  finanziert. Wie kann man erwarten, dass sich junge Ärzte für eine Ausbildung entscheiden, die noch nicht einmal gesichert ist? Ein Fach jedoch, das schon während der Ausbildung in jeder Hinsicht nachrangig behandelt wird, erscheint wenig reizvoll.

Zudem wurde die Gleichstellung der Ärzte für Allgemeinmedizin mit den Fachärzten der Spezialgebiete im Rahmen der Ausbildungsreform unverständlicherweise wieder verabsäumt. Österreich ist eines von nur mehr drei Ländern Europas, wo das der Fall ist. Junge Menschen hören die Botschaft der fehlenden Anerkennung mit feinen Ohren. Wir stehen vor einem höchst real existierenden Problem. Angesichts der Tatsache, dass kein Gesundheitssystem der Welt ohne Hausärzte gut funktionieren kann,  ist unverständlich, wie wenig getan wird, um es zu lösen.    

 

Erschienen in: Wiener Zeitung, 7.9.2016