Zum Inhalt springen

Editorial 17-2016

Im Editorial zum Wonca-Kongress in der 13. Ausgabe der ÖGAM News habe ich postuliert, dass das österreichische Gesundheitssystem Qualitäten ermöglicht, die anderswo verloren gegangen sind – eine Behauptung, die vielerorts allergische Reaktionen vom Sofort-Typ hervorruft. Im Folgenden also einige Präzisierungen.

Wir Primärversorger sind in unserem Gesundheitssystem noch in der Lage, das zu bieten, was zu dem führt, was in der englischen Diskussion unter „good user experience“ zusammengefasst wird – befriedigende Erfahrungen von Patienten mit dem Gesundheitssystem. Charakteristika dafür sind zeitliche und räumliche Niederschwelligkeit, zeitliche und personelle Kontinuität, umfassende, holistische Betreuung durch den persönlichen Arzt des Vertrauens, Zentrierung auf den Patienten und nicht auf einzelne seiner Krankheiten, Koordination mit den weiteren Systempartnern und -ebenen.

Hierzulande wird diese User Experience gerne auf Patientenzufriedenheit reduziert, die in der Tat als Qualitätsparameter nicht ausreicht. Das wird dem Begriff in keiner Weise gerecht. Gute User Experience ist im Gegenteil eines der 3 zentralen Ziele, die Primary Care verfolgt.

„Primary Care“ ist inhaltlich auf den Patienten hin definiert und bedeutet in allererster Linie die umfassende, persönliche, kontinuierliche (also: generalistische) und gerechte Behandlung und Betreuung für alle Bürger.  

Was Patienten in Ländern wie Großbritannien und Teilen von Skandinavien vermissen, können österreichische Patienten mit ein bisschen Glück noch erfahren. Glück ist nötig, weil wir bisher nicht in der Lage bzw. willens waren, Gerechtigkeit systematisch herzustellen. Diese hat Stufung und Steuerung der Ebenen mit definierter Aufgabenverteilung zur Voraussetzung. Das wird derzeit vom System unverständlicherweise nicht gewünscht.

Die erwähnten Länder haben diese Steuerung zwar vorgenommen,  als Folge eines Mangels an ärztlichen Primärversorgern (bzw. zur Kostenreduktion) jedoch die Definition des Primärversorgers von der Person des generalistischen „primary care physician“ weg auf die Organisation (z.B. Zentrum) verlegt. Damit konnten Aufgaben stärker ge- und verteilt werden. Die zentrale Vertrauensperson, die kraft ihrer Ausbildung für den Patienten in allen seinen Aspekten hauptverantwortlich und teamleitend war, wurde gesplittet. Die Zuständigkeit für einen einzigen Patienten verteilt sich nun auf eine Reihe von Berufen.  Nicht nur die ärztliche Funktion wurde auf diese Weise fragmentiert, sondern in der Folge auch der Patient.

Diese Fragmentierung wird, wie auf dem Europäischen Kongress deutlich wurde, von vielen Seiten als schwerer Verlust empfunden: Patienten vermissen den vertrauten Arzt, der sie in allen Aspekten kennt, die persönliche Beziehung und Kontinuität und die Sicherheit, die diese bieten.

Ärzte berichten vom Verlust des Überblicks, der Beziehung (einer wesentlichen Quelle hausärztlicher Motivation), der erholsamen „einfachen“ Begegnungen zwischen schwierigen und kraftraubenden Konsultationen, der unzähligen Erfahrungen mit einem bestimmten Patienten in unterschiedlichen Situationen (die eine der Grundlagen effizienter und sicherer Diagnostik darstellen). Auch hohes individuelles Engagement führt in dieser Situation kaum zu besserer „user experience“. Die englischen Drop-out-Raten unter demotivierten GP sind bereits systemgefährdend.

Generalistische Medizin bildet das Rückgrat von Primary Care. Warum ist die Sache der Hausarztmedizin dennoch so schwer zu vertreten?  Weil Hausarztmedizin hochkomplex ist, meist in Prozessen besteht und nicht in abschließbaren Ereignissen, weil sie in der Mehrzahl der Konsultationen nicht mit klar definierten Krankheitsbildern zu tun hat, von denen oft auch noch mehrere ineinander verwoben sind.  Weil sie vollkommen anders ist als spezialistische Medizin: mit anderen Aufgaben und anderen Methoden. Aber auch: weil Systeme und Systemträger so schwer verstehen, dass die aufgezählten Qualitäten hausärztlich-generalistischer Medizin auch Effektivität und Effizienz erhöhen: Angst ist eine der wesentlichsten Ursache für „unnötige“ Inanspruchnahme, der fehlende persönliche Arzt führt zu Doctor Hopping und die Fragmentierung des Patienten zu Doppelmaßnahmen, Über- und Unterbehandlung, zu verzögerten Diagnosen, verspäteten Behandlungen und zu entsprechenden Folgekosten.

Welche Organisationsform die jeweils sinnvolle ist, ist sekundär. Entscheidend ist, dass das wesentliche Ziel von PC, nämlich gute „user experience“, in der jeweiligen Form nicht nur erreichbar ist, sondern systematisch gefördert und gefordert wird.