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Besonderheiten der Lehrpraxis

Welche Kenntnisse, Erfahrungen, Fertigkeiten, die sie im stationären Bereich nicht erwerben können, lernen Lehrpraktikanten in einer allgemeinmedizinischen Praxis?

Allgemeinmedizin ist nur in der Allgemeinmedizin zu erlernen und diese findet in idealer Weise nur in der niedergelassenen allgemeinmedizinischen Praxis/Hausarztpraxis statt. Die ambulante medizinische Betreuung beruht zu einem überwiegenden Teil auf der Tätigkeit der Hausärzte. Die Bereitschaft junger Ärztinnen und Ärzte den Hausarztberuf zu ergreifen nimmt jedoch dramatisch ab. Einer der Gründe dafür ist, dass sich die wenigsten der jungen Ärztinnen und Ärzte auf Grund der derzeitigen Ausbildung diesen Aufgaben gewachsen fühlen. Zwei Kassenstellen in Salzburg Stadt, eine in der Steiermark und fünf in Vorarlberg können derzeit nicht besetzt werden. Abbau von Vorurteilen und Ängsten Die Tätigkeit in einer Lehrpraxis stellt eine wichtige Erweiterung der klinischen Erfahrung dar und erschließt den Jungärzten einen anderen Zugang zur medizinischen Versorgung mit anderen Beratungsanlässen und einer anderen Arbeitsmethode. Hier lernen sie Vorurteile und Ängste überwinden und gewinnen Vertrauen in ihre Fähigkeiten eventuell selbst eine Allgemeinpraxis zu führen und zu verantworten.

Spezielle Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten

In der Lehrpraxis erwerben Praktikanten Kenntnisse über typische Krankheitsbilder der medizinischen Grundversorgung, denen sie im stationären Bereich zum Teil überhaupt nicht begegnen. Besonders profitieren sie von der übenden Auseinandersetzung mit folgenden Kompetenzen, die im stationären Bereich in gleicher Weise nicht erlernbar sind:

  • spezielle, hausärztlichen Kommunikation mit Patienten, bei der die psychosoziale Komponente und die Langzeitbeziehung eine große Rolle spielt
  • Umgang mit Patientenängsten, die kostenintensive diagnostische Absicherung nach sich ziehen
  • auf gemeinsamen Entscheidungen beruhenden Begleitung und Betreuung chronisch Kranker bei den klassischen Volkskrankheiten
  • Diagnosestellung, insbesondere Frühdiagnosen mit Erarbeitung von Diagnoseplänen und Auswahl der am besten geeigneten medizinischen Ebene
  • Behandlung bzw. Erarbeitung von Behandlungsstrategien bei akuten und chronischen Erkrankungen mit Auswahl der am besten geeigneten Ebene
  • Gewichtung der Dringlichkeit und Umgang mit rasch wechselnder zeitlicher Dynamik
  • Koordination der Behandlungsvorschläge von Mitbehandlern im Einvernehmen mit dem Patienten
  • Betreuung und Gewichtung von Maßnahmen beim gleichzeitigen Vorliegen gesundheitlicher und sozialer Probleme
  • Effektive Zusammenarbeit mit Hauskrankenpflege, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Altenhelfern etc. mit Berücksichtigung der haftungsrechtlichen Aspekte
  • Hilfestellung im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung

Grund für den intensiveren Lerneffekt der allgemeinmedizinischen Lehr ‐ bzw. Ausbildungspraxis im Vergleich zum Spital ist die 1:1 Lernsituation und die ständige Rückkoppelung zwischen Lernenden, Lehrenden und Patient. Die Kontinuität der Betreuung bei einem Großteil der Patienten und das Erlebnis wechselnder Krankheitsepisoden beim selben Patienten sind dabei ein wesentlicher Faktor.

Praxismanagement und Teamentwicklung

Die Praktikanten lernen viel über die wirtschaftliche und administrative Organisation einer Praxis, lernen Selbstmanagement, Zeit und Aufgaben zu planen, eigenes Stressmanagement und das des gesamten Teams. Die Entwicklung eines Teams mit Mitarbeitern, die einerseits organisatorische, verwaltungsbezogene Tätigkeiten, andererseits medizinische Hilfstätigkeiten durchführen, die Planung und Qualitätssicherung deren Arbeit wird hier erlernt. Viele junge Ärztinnen und Ärzte trauen sich verständlicherweise diese Fähigkeiten nicht zu. Sie können diesbezügliche Erfahrungen weder im Laufe des Studiums noch im stationären Bereich sammeln, aber auch nicht bei einem kurzen Blick in eine Allgemeinpraxis im Rahmen des Studiums.

Ökonomische Aspekte

Auf Grund der faktischen Gegebenheiten wird die direkte Verantwortlichkeit für die ökonomischen Aspekte der medizinischen Tätigkeit vor allem im niedergelassenen Bereich erlebt. Dies erfolgt nicht nur bei der Auseinandersetzung mit dem EKO (Erstattungskodex) sondern auch bei der Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Pflegegeld, Pflegefreistellung, und Ähnlichem.

Eine vom ersten eigenverantwortlichen Praxistag an qualitativ hochwertige Betreuung über die medizinischen und verwaltungsbezogenen Schnittstellen des Gesundheitswesens hinweg mit ausreichender Berücksichtigung von Patientensicherheit und sinnvoller Verwendung der Ressourcen kann vor allem durch die in der Lehrpraxis erworbene Kompetenz und Effizienz zum Vorteil des gesamten Systems gesichert werden.

Dr. Reinhold Glehr Präsident ÖGAM

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